Die rückwärts gehende Uhr

Endlich war er da. Der alles entscheidende Augenblick.

Als er sie am Morgen angesehen hatte, wusste sie, dass er zu allem bereit war. Seine braunen Augen hatten so ein zuversichtliches Leuchten gehabt, dass sie noch im Nachhinein innerlich errötete. Sie wollte ihn auf gar keinen Fall verunsichern, deshalb ließ sie sich nichts anmerken. Aber als seine Hände sie sanft berührten, durchfuhr sie ein zartes Schaudern, das sie nicht verbergen konnte. Sie war so aufgewühlt. Und die Blicke der Umstehenden trugen ihren Rest dazu bei. Sie wusste, dass er ihr aus vollem Herzen vertraute. Wie oft hatte sie ihm das in den letzten Monaten beweisen müssen. Wieder und wieder. Sein Perfektionismus hätte andere in die Verzweiflung getrieben, doch sie war nie müde geworden ihn zu unterstützen. Das gleichmäßige Pochen in ihrem Körper gab ihr die Gewissheit, dass seine Pläne kein Luftschlösser waren. Bei all seinen Vorhaben würde sie ihm treu zur Seite stehen. Für alle Zeiten, für immer und für ewig.

Wie die Zukunft tatsächlich aussah, konnte sie zwar nicht einschätzen, aber ihre Hoffnung war so groß wie die Sonne rund. Vielleicht würde er sie behutsam in die Luft gepolsterte Kunststofffolie einhüllen und in die silbern glänzende Edelstahlbox zurücklegen. Und in einigen Jahren würde er sie für eine neue Mission einsetzen. Er war ja noch so jung.

Doch was bedeutete schon Zeit? Sie würde warten. Die letzten zehn Jahre waren ja auch wie im Flug vergangen. 3,154 E8 Sekunden in seiner Nähe… Ja, sie würde ihren Timer nach dem Start wieder auf dieses Zeitfenster einstellen. Jede Sekunde zählen bis sie ihn wiedersehen konnte. Sie war schließlich keine 08/15 Uhr, sie hatte Visionen, genau wie er.

Aber nun musste sie sich auf ihre Aufgabe konzentrieren. Durfte sich nicht ablenken lassen, von den Gefühlen zu ihm, die ihr ganzes Universum umspannten.

Ein Blick auf die Mitarbeiter im Kontrollraum bestätigte ihre Empfindung. In ihren steifen, neuen Hemden starrten sie angespannt in seine Richtung . Sein ernstes Gesicht drehte sich zu ihr und er beugte sich nah über das Display. Ihre roten LEDs spiegelten sich in seinen Pupillen. Mit all ihren Sinnen fokussierte sie sich auf diesen Moment. Der Moment, der Geschichte schreiben würde. Sie spürte sein warmes Ausatmen wie eine leichte Meeresbrise auf ihrer glänzenden Aluhaut. Als er ihren Startbutton antippte, verschmolzen sie beide zu einer Einheit. Mit ruhiger, kräftiger Stimme, im Einklang zu ihrem präzisen Ticken, begann er zu zählen:

„Der Countdown läuft in Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, zero…“

Die Rakete hob ab.

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